107 Einsamkeiten und ein Chor - Text von Efisio Carbone


Malerei verwandelt den Raum in Zeit, Musik die Zeit in Raum.
(Hugo von Hofmannsthal)

107 Einsamkeiten und ein Chor, das "vierhändig" von Simone Dulcis und Lea Gramsdorff geschaffene Work in progress stellt die jahrhundertealte Verflechtung von visueller Kunst und Musik auf einer stimmungsvollen Reise beim Sehen, Hören, aber vor allem beim Wahrnehmen mit dem Herzen dar.
Das vor über einem Jahr begonnene und in Cagliari und Berlin präsentierte Projekt wird fortlaufend in seiner Ausgestaltung und seinen einzelnen Werken verändert und ergänzt, um einen stets neuen Gesamteindruck zu erzielen.
Bei der jetzigen Gelegenheit werden hundertsieben kleine Gemälde präsentiert, die von ebenso vielen Musikstücken inspiriert und zu einem Bouquet aus dem endlosen Garten der klassischen Musik arrangiert sind: Vivaldi, Mozart, Beethoven, die Romantiker, Mendelssohn, Schubert, Brahms, Chopin, Wagner, bis zu den zeitgenössischen

Komponisten wie Schönberg, Schostakowitsch, Strawinsky, Boulez.
Eine neue Serie von Kunstwerken verstärkt noch das Gleichgewicht zwischen den Orten des Ichs von Simone Dulcis und der symbolischen Aufladung der Zeichen von Lea Gramsdorff, eine Synthese, die in einem beständigen Arbeitsprozess von Recherche, Gegenüberstellung und Respekt entsteht.
Die Analyse der Musikstücke in den letzten Arbeiten wird detaillierter durch die Schaffung von kleinen Serien, die den einzelnen Sätzen einer gesamten Komposition gewidmet sind. Man denke an "Die Vier Jahreszeiten" von Vivaldi oder an die "Drei Klavierstücke" op. 11 von Schönberg, deren Rahmen ihre Zugehörigkeit zum selben Themenkreis noch betonen. Auch die Thesauri beginnen, klare Beziehungen zwischen Kompositionen und Komponisten gemäß einer systematischen Ordnung hinsichtlich einer spezifischen Musiksprache aufzuzeigen.
Die Struktur des Gesamtwerkes bleibt jedoch schwer zu analysieren. Denn die beiden Künstler wollen durch die Auswahl der Kompositionen nicht einen Weg durch die Musikgeschichte zeichnen, sondern eine sehr persönliche Landkarte der Gefühle darstellen, die sie bei ihrer gemeinsamen Recherche empfunden haben.
Als erste und letzte Bedingung allen menschlichen Daseins legt die Einsamkeit das Ich am Rande eines glücklichen und gleichzeitig schrecklichen Abgrundes bloß. Aber sie ist auch eine Grundbedingung für den Künstler: Ohne große Einsamkeit ist keine ernsthafte Arbeit möglich. (Picasso)
In dem informellen Aufbau von Simone Dulcis, den wir gut auch als tonal bezeichnen könnten, existieren kleine isolierte Figuren, in einigen Fällen von Archetypen des Alltäglichen begleitet, von Lea Gramsdorff mit der Pinselspitze ziselierte Individuen, die melodische Linien für diese kleinen Kompositionen schafft.
Die großen, überdimensionierten Rahmen erhöhen den surrealen Effekt der Fragmente, die mit der Welt kommunizieren; manchmal scheinen sie beinah von einer anderen Schwerkraft erdrückt, als wären die physikalischen Gesetze zwischen dem Innen und Außen andere.
Uns bleibt nur, durch diese engen Räume hindurch wie neugierige Giganten weiteste Flächen von spirituellen Gegenden zu erspähen. In den Sinn kommen uns die "Sechs kleine Klavierstücke" op. 19 von Schönberg, nur wenige Takte, um neue Universen zu erschaffen. Aber auch, wenn wir in unseren Gedanken zurückgehen, die beseelten Werke von Caravaggio, wo die Präsenz einer realen Partitur klanglich die unsterblichen heiligen und profanen Meisterwerke begleitete.
Das zwanzigste Jahrhundert eröffnet triumphierend den Weg für die Verschmelzung der Künste, die sich in der tonalen Abstraktion, in der ästhetischen Revolution der Avantgarde treffen: Es schien mir manchmal, dass der Pinsel, der mit unbeugsamem Willen Stücke von diesen lebenden Farbenwesen riss, bei diesem Reißen einen musikalischen Klang hervorrief. (Kandinsky)
Das Werk von Simone Dulcis und Lea Gramsdorff, eine "Promenade" in hundertsieben der Einsamkeit des Menschen gewidmeten Stationen, lüftet im letzten Gemälde sein Geheimnis: ein Konzertsaal.
Unsere Gedanken wandern unweigerlich zu den rauen und sonnenbeschienenen Steinböden von Palmyra. In dem Amphitheater, das vor kurzem als Kulturgut der Welt zurückgegeben wurde, eröffnete eine einzelne Violine das Konzert mit der berühmten "Ciaccona" von Bach, unsterbliche Tränen für ein vom Hass des Menschen gequältes Land auslösend. Zum Abschluss spendet ein Chor syrischer Kinder neue Hoffnung.
Bei denen, die nicht lieben, vertreibt die Musik allen Hass. Dem Ruhelosen gibt sie Frieden und dem Weinenden Trost. (Pablo Casals)

Text: Efisio Carbone
Übersetzung: Kirsten Müller - von der Heyden